Hausarbeit

T. Parsons,
Theorien des sozialen Wandels:
„Das Problem des Strukturwandels,
eine theoretische Skizze“

Universität Trier - Fachbereich IV - Soziologie
Proseminar „Theorien des sozialen Wandels“
Dozent: Prof. Dr. Klaus-Georg Riegel
Verfasserin: Sandra Maria Roth

31. August 2002

Inhaltsverzeichnis

1. Systeme und Strukturen 2
1.1 soziale Strukturen 2
1.2 soziale Systeme 2
2. Talcott Parsons 3
2.1 Parsons´ Systembegriff 3
3. Das AGIL-Schema 4
3.1 Adaption 4
3.2 Goal-Attainment and -Selection 4
3.3 Integration 4
3.4 Latent Pattern Maintenance 5
3.5 Funktionale Verknüpfung 5
3.6 Kontrolle und Konditionierung 6
3.7 Generalisierbarkeit 6
4. Der soziale Wandel in Parsons´ Theorie 7
5. Aspekte des Strukturwandels 8
5.1 Exogene Quellen des Wandels 8
5.2 Endogene Quellen des Wandels 8
5.3 Funktionalismuskontroverse 9
5.4 Spannungen 9
5.5 Faktoren des Wandels 9
5.6 Die Wirkung der Faktoren des Wandels 10
5.7 Typen von Prozessen des Strukturwandels 11
5.8 Die Differenzierung der Verwandschafts- und Berufsrollen 12
5.9 Strukturwandel auf der Werteebene 13
6. Beispiel für eine „gesellschaftliche Alarmsituation“ 14
7. Allgemeine Anmerkungen 15
7.1 Autor 15
7.2 Form 15
7.3 Richtung 16
7.4 Tempo 16
7.5 Träger 16
7.6 Ursachen 17
7.7 Art 17
8. Quellen 18

1. Systeme und Strukturen:

Einzelne Handlungselemente innerhalb einer Gesellschaft können einen Zusammenhang bilden, der als System oder als Struktur beschreibbar ist.

1.1 Soziale Strukturen

Von einer Struktur kann man ganz allgemein sprechen, wenn eine Mehrzahl von Einheiten durch verschiedene Ursachen in nicht zufälliger Weise miteinander verbunden sind, so dass sich Regelmässigkeiten zeigen.

Das Gegenteil der Struktur ist das Ereignis. Strukturen bilden sich durch das wiederholte Eintreten eines Ereignisses, durch Redundanzen und Regelmässigkeiten.

Eine soziale Struktur kann Menschen aufgrund ihres Status und ihres Rollenspiels miteinander verbinden oder variable theoretische Elemente einer Gesellschaft, die durch soziales Handeln entstehen und z. B. durch Institutionen, Sanktionen, Traditionen, Sozialisation oder Umver¬teilung des Volkseinkommens stabilisiert werden.

Strukturen können sich also ändern, sie sind variabel.

1.2 Soziale Systeme

Bei Systemen ist der Augenmerk auf das Ganze gerichtet. Systeme haben Grenzen, die von Strukturen ignoriert werden. Ausserhalb der Grenzen herrscht Chaos.

Die Identität eines Systems kann man streng genommen nicht verändern, es kann seine Komplexität steigern oder es löst sich auf. Das Bild der Gesellschaft als Organismus kommt dem Systembegriff sehr nahe.

Historisch haben sich Systemtheorien oft an Modellen orientiert, die der Beschäftigung mit Lebewesen und ihnen analogen Automaten entstammten.

2. Talcott Parsons,

(1902-79, Soziologe an der Harvard University), gilt als Begründer der soziologischen Systemtheorie.

2.1 Parsons´ Systembegriff

Ein soziales System ist für Parsons ein analytisch differenzierbarer Komplex interdependenter Interaktionen, ein analytischer Aus¬schnitt des Handelns.

Über soziale Rollen, Normen und Regeln werden die Grenzen des Systems definiert und Interaktionen so geregelt und zu Strukturen stabilisiert, dass sie die zu ihrer Aufrechterhaltung notwendigen Funktionen erbringen können.

Parsons hat sich die Frage gestellt, was jedes soziale System, in dessen Grenzen Gesellschaftsmitglieder aufeinander bezogen handeln, braucht, um sich selbst zu erhalten.

In seinen neueren Arbeiten hat er seine Theorie durch eine dem nationalökonomischen Input-Output-Modell nachgebildete Prozessanalyse erweitert.

Das soziale System ist sieht Parsons als offenes System. Es unterhält durch Austauschprozesse Beziehungen zu den anderen Systemen seiner Umwelt, in denen psychische und physische Antriebskräfte und kulturelle Traditionen manifestiert sind, zum biologischen Organis¬mus¬systemen, zum psychischen Persönlichkeitssystemen, zum kulturellen System und diversen anderen. Der Kontakt zur physischen Umwelt erfolgt über diese Systeme und ist indirekt.

An den Randzonen des sozialen Systems treffen System und Umwelten aufeinander, formen sich zu abgrenzbaren Subsystemen von Interaktionen um, die exklusiv den jeweiligen Pro¬blemen begegnen. Diese Subsysteme durchdringen sich ebenfalls gegenseitig und bilden Subsubsysteme, usw, begegnen also durch funktionale Differenzierung und Spezifizierung ihren Bedürfnissen.

Es gibt also keine direkte Kommunikation zwischen System und Umwelt, sondern strukturelle Kopplung und ständige Selektion nach dem Schema zugehörig/nicht zugehörig. Das System steigert seine eigene Komplexität kontinuierlich und verringert damit die Komplexität seiner Umwelt.

3. Das AGIL-Schema

Das soziale System besteht nach Parsons aus einem abstrakten Funktionszusammenhang von vier Subsystemen, mit dem es auf die vier Grundprobleme reagieren kann, die dort notwendig sind, wo Menschen interagieren. Dadurch ergibt sich das schematische Modell eines Quartetts, das sogenannte AGIL-Schema mit den vier Eckpunkten: Adaption, Goal-Attainment and -selection, Integration und Latent Pattern Maintenance.

3.1 Adaption

Adaption heisst, es müssen Ressourcen aus der Umwelt natürlicher Gegebenheiten mobilisiert werden, die zur Erhaltung des Systems notwendig sind. Das können auch geistige Ressourcen sein. Im Staat wird diese Funktion durch das ökonomische System mittels Geld als Austausch¬medium gewährleistet.

3.2 Goal-Attainment and -Selection

Goal-Attainment (and -selection) bedeutet, es sind Systemziele zu definieren und zu erreichen, es muss Zielhierarchisierung erfolgen. Es müssen kollektive Entscheidungen ge¬funden werden, diese Funktion übernimmt die Politik durch ihre Machtstellung.

3.3 Integration

Integration heisst, die einzelnen Systemelemente müssen verknüpft werden, sonst zerfällt das System in unabhängige Teilsysteme. Es muss kollektive Solidarität unter den partikulären Gruppen geben. Die gesellschaftliche Gemeinschaft erhält die kollektive Solidarität durch den Einfluss der Normen und des Rechssystems.

3.4 Latent Pattern Maintenance

Latent Pattern Maintenance bedeutet, dass grundlegende Strukturen über längere Zeit, auch bei veränderten Rahmenbedingungen, erhalten bleiben (Überzeugungen, Werte, Ideologien). Diese Sinnstiftung übernehmen die Religionen, die Ethik oder das Treuhandsubsystem mittels Wertcommitment.

3.5 Funktionale Verknüpfung

Diese vier Subsysteme sind untereinander durch sechs Funktionen miteinander verknüpft:

Mobilisierungsfunktion: Zwischen Adaption und Goal-Attainment stellt sich die Frage, mit welchen Zielen das adaptive System herausgefordert wird.

Stützungsfunktion: Bei der Verknüpfung von Goal-Attainmant und Integration stellt sich die Frage, wie aus Integrationsweisen Ziele entstehen oder wie politische Ziele sozialstrukturell gestützt werden.

Bindungsfunktion: Integration und Latent Pattern Maintenance verknüpfen sich zu der Funktion, dass tief emotionale Überzeugungen die Integration befördern.

Arbeits- und Konsum-Funktion: Zwischen Latent Pattern Maintenance und Adaption besteht die tiefe Überzeugung, dass man arbeiten und das essen und trinken muss, was die Wirtschaft produziert.

Allokationsfunktion: bei der Verknüpfung von Adaption und Integration lautet die Frage, wer das von den Ressourcen bekommt.

Legitimierungsfunktion: Bei der Verknüpfung von Goal-Attainment und Latent Pattern Maintenance stellt sich das Problem, das alle Ziele letztlich durch tief emotionale Überzeugungen legitimiert werden müssen.

3.6 Kontrolle und Konditionierung

Das Wirtschaftssystem ist auf einen politischen Rahmen, dieser auf ein Rechtssystem und dieses wiederum auf generalisierte kulturelle Legitimation angewiesen (Kontrollprozesse). Umgekehrt sind alle Subsysteme auf ausreichende ökonomische Ressourcen angewiesen (Konditionierungsprozesse).

Alle Systeme stehen über Austauschprozesse von Ressourcen in Beziehung zueinander (Güter, Motivation, Information).

Jedes Teilsystem ist für die Gesellschaft funktional. Dies beruht auf der Akzeptanz von Kontrollmechanismen wie Systemwerten, institutionalisierten Normen, organisierten Gruppen und Rollen, die sich gegenseitig bedingen und kontrollieren und in dynamischen gegenläufigen Prozessen (durch Medien wie Geld, Macht, Kommunikation) wirksam werden. So können exogene Störungen und endogene Koordinationsaufgaben bewältigt werden.

3.7 Generalisierbarkeit

Mit diesem allgemeinen Modell lässt sich jede Gesellschaft beschreiben und auch kleinere Einheiten, wie Wirtschaftsbetriebe. Man muss jedoch berücksichtigen, dass das Modell von Personen und Dingen abstrahiert und die einzelnen Institutionen einer Gesellschaft nicht zwangsläufig den Subsystemen entsprechen, sondern Interaktionen repräsentieren. Der entscheidende Gedanke ist, dass gesamtgesellschaftliche Stabilität und gesamt¬gesellschaftlicher Wandel nicht ökonomisch, politisch, normativ oder kulturell erklärbar sind, sondern nur durch das System sämtlicher Funktionsleistungen. Parsons tendiert jedoch dazu, Wandlungen der ökonomischen und politischen Subsysteme als Anpassungsprozesse und nur Veränderungen der umfassenden Norm- und Wertemuster als gesamtgesellschaftlichen Wandel aufzufassen.

4. Der soziale Wandel in Parsons´ Strukturfunktionalismus-Theorie

Parsons Strukturfunktionalismus-Theorie geht von einem idealen Gleichgewichtszustand aus. Gleichgewicht entsteht durch den Ausgleich der Bilanzen und Austauschprozesse. Um das Gleichgewicht gibt es Kämpfe und soziale Konflikte, Störungen und Ersatzprozesse (funktionale Äquivalente).

Parsons definiert nun einen Wandel in der Struktur eines sozialen Systems als Wandel seiner normativen Kultur in Analogie zu Wachstums- bzw. Suchprozessen. Bei Betrachtung der obersten Ebene sozialer Systeme handelt es sich um einen Wandel des gesamtgesellschaftlichen Wertsystems.

Der Wandel kann nur durch Bezugnahme auf einen stabilen Hintergrund identifiziert werden, also unter Annahme der Bewahrung der Stabilität und des Gleichgewichts.

Strukturwandel kann man also als das Gegenteil des Gleichgewichtsprozesses ansehen, je nachdem, ob die Grenzen des Systems aufrechterhalten werden, oder nicht. Demnach gibt es Prozesse, die die verschiedenen Aggregatzustände jenseits der Grenzen durch Kontroll¬mechanismen des Systems aufrecht erhalten wollen und Kräfte, die die Grenzen abschaffen wollen. Bei Störungen werden die Grenzen bis zu einem bestimmten Punkt aufrechterhalten.

Parsons betrachtet diese Grenzen als eine Art Wasserscheide, was jedoch die komplizierte Reihenfolge der Grenzen der einzelnen Subsysteme innerhalb des umfassenderen Systems (Kontrollebenen), nicht präzise wiedergibt.

Wird eine Grenze durchbrochen, setzt ein Wandlungsprozess ein und produziert Aggregat¬zustände, die immer weiter von den institutionalisierten und durch Werte legitimierten Strukturmustern abweichen. Dann wirken die Ressourcen der jeweils umfassenden Systeme dem Strukturwandel entgegen.

Sozialer Wandel ist also die Veränderung der Struktur sozialer Systeme. Gleichzeitig muss es Strukturwandel in den Subsystemen geben, um das Gleichgewicht zu erhalten. Aufgrund der relativ kurzen Zeitspanne eines Menschenlebens unterliegen die Rolleneinheiten einer Gesellschaft der ständigen Sozialisierung.

Die reale Kernfamilie als System niederer Ordnung beispielsweise ist niemals identisch mit der institutionalisierten Rollendefinition einer Kernfamilie, sondern das Produkt der durch Sozialisation an die Gründer vermittelten Normen. Ähnliches gilt für Berufsrollen, die durch Sozialisation vermittelt werden (Schule, Ausbildung, Studium).

5. Aspekte des Strukturwandels

Der Strukturwandel kann unter drei Aspekten analysiert werden, er kann endogen, exogen, oder eine Kombination aus beidem sein. Dem Wandel des oberen Wertsystems kommt eine gesonderte Stellung zu, da er auf alle Gesellschaftsebenen Einfluss hat.

5.1 Exogene Quellen des Wandels

Da jedes soziale System von anderen Teilsystemen umgeben ist (biologische, psychische, physische, internationale, soziale, kulturelle, ...) kommen als äussere Quellen des Wandels alle Veränderungen in den Umwelt-Systemen des sozialen Systems in Frage: Genetische Veränderungen, wenn sie das soziale Rollenverhalten und die Sozialisation beeinflussen, aber auch physische Veränderungen, z. B. technische Neuerungen oder Wandel in anderen sozialen Systemen, wie z. B. anderen politisch organisierten Gesellschaften.

5.2 Endogene Quellen des Wandels

Spannungen (strains) als innere Wandlungstendenzen in der Beziehung zwischen den Subsystemen einer Gesellschaft entstehen dadurch, dass ein Subsystem durch Druck versucht, eine soziale Beziehung in eine bestimmte Richtung zu verändern, was mit dem Gleichgewicht des betreffenden Systemteils unvereinbar ist. Die Input-Output-Bilanz im Austauschprozess (Produktion und Disribution) von Anpassungs-, Zielsetzungs-, Integrations- und Legitimationsleistungen stimmt nicht mehr. Wenn die Kontrollmechanismen die Konformität durch normative Erwartungen bei längerfristigen Gleichgewichtsstörungen nicht mehr aufrecht erhalten können, kommt es zu sozialem Wandel.

5.3 Funktionalismuskontroverse

Die sogenannte Funktionalismuskontroverse beinhaltet die Frage, ob die Faktoren des Wandels in Einflüssen ausserhalb des Systems bestehen oder ob sie durch die Stabilisierungsbemühungen ständig endogen produziert werden.

5.4 Spannungen

Spannungen können auf verschiedene Art und Weise gelöst werden:

- durch Wiederherstellung der vollen Konformität mit den normativen Erwartungen durch Kontrollmechanismen

- durch Hemmung oder Isolierung der Spannungen: Die volle Konformität wird nicht wieder hergestellt, jedoch wird die Leistungsreduktion der betroffenen Einheit akzeptiert und andere Subsysteme übernehmen die ursprünglichen Leistungen. (Frauen können durch Kindergärten ihrem Beruf teilweise nachgehen) Es werden funktionale Äquivalente gefunden. Im äussersten Fall verliert die gestörte Einheit ihre soziale Funktion.

- durch Wandlung der Strukturen, wenn die unteren Einheiten durch Kontrollmechanismen die Spannung nicht anders lösen können, d. h. die erwartungsregelnden Normen ändern sich

Darüber hinaus kann auch eine radikale Auflösung des Systems erfolgen.

5.5 Faktoren des Wandels

Sozialer Wandel kann durch eine Vielzahl von Faktoren verursacht werden. Es gibt keine Rangordnung unter diesen Quellen des Wandels und sie können einzeln oder zusammen wirken (z. B. Besitzverhältnisse, Interessen, Ideen, ...)

Viele Faktoren, die Prozesse in sozialen Systemen bedingen, sind exogener Natur:

- geographische Umwelt,
- biologische Vererbung,
- „grosse Männer“, überragende charismatische Persönlichkeiten,
- kulturelle Erklärungen, z. B. religiöse Ideen,
- Bevölkerungsgrösse,

Die Hierarchie der Kontrollmechanismen in sozialen Systemen (Werte-, Normen-, Gruppen- und Rollenebene) ist ein wichtiger Punkt. Je höher die Kontrollebene, in der die Spannung entsteht, ist, desto wahrscheinlicher kommt es zum Strukturwandel. Der Grund dafür ist, dass Spannungen auf niedrigeren Kontrollebenen durch Kontrollmechanismen, wie z. B. stabile Werte, absorbiert bzw. neutralisiert werden können, bevor sie auf höheren Ebenen zum Wandel führen. Zunächst ändern sich Teilstrukturen / Subsysteme, im extremen Fall werden die gesamtgesellschaftlichen Norm- und Wertemuster in Frage gestellt, die die Prozesse regulieren und die gesamtgesellschaftliche Struktur wandelt sich.

Die Werte kontrollieren die Normen, diese die Gruppenorganisation und diese das Rollenverhalten. Dabei muss jedoch berücksichtigt werden, dass verschiedenen Gruppen in der Gesellschaft verschiedenen Einfluss auf gesamtgesellschaftliche Normen und Werte ausüben: Wenn Führungsgruppen ihre Struktur ändern, sind die Auswirkungen grösser als bei anderen Gruppen.

5.6 Die Wirkung der Faktoren des Wandels

Die Ursachen für Störungen innerhalb des Systems können mangelhafter oder überflüssiger Input an bestimmten Systemstellen sein. Zwischen Gesellschaften und ihren Umwelten bzw. zwischen den Subsystemen eines Systems müssen Austauschbeziehungen in ausgeglichener Weise in beide Richtungen erfolgen.

Die Wirkung der Faktoren des Wandels hängt von fünf Aspekten ab:

- Grösse der Störung (relative Abweichung von den üblichen Input-Output-Raten), - Anteil der betroffenen Systemeinheiten in der jeweiligen Ebene, - Wichtigkeit des funktionalen Beitrags der betroffenen Einheit für das System, - Art der von der Störung betroffenen Komponenten der Sozialstruktur (Rollen lassen sich leicht ersetzen, Werte kaum; dagegen werden Rollen am ehesten aufgegeben, Werte sind relativ stabil, da sie abstrakt und unspezifisch sind), - Grad des Widerstandes gegen Wandlungstendenzen (Stabilität; Effektivität der Kontroll-mechanismen),

Wandlungskräfte lassen sich aber selten genau kategorisieren, da sie sich auf eine Vielzahl von anderen Faktoren und auf viele Ebenen gleichzeitig auswirken. Veränderungen im Wertesystem einer Gesellschaft breiten sich auf die darunterliegenden Systeme aus, da die Werte und Normen eine gewisse (abwärtskompatible) Konsistenz aufweisen.

Permanente, latente Störungen auf einzelnen Ebenen (z. B. psychische Motivation auf Rollenebene), können das System der Werte als höchste Stufe jedoch unverändert lassen.

5.7 Typen von Prozessen des Strukturwandels

Verallgemeinert lässt sich sagen, dass es in der Beziehung zwischen normativer Kultur und den Persönlichkeiten eines Systems zwei unterschiedliche Integrationsmechanismen gibt:

- Verteilungsmechanismen (Geld, Macht)
- Motivation der Einheiten (Zieldefinition, Ideologien/Religionen)

Institutionalisierung und Internalisierung der Normen bedingen sich gegenseitig. Erreichen Wandlungskräfte die Ebene der Werte, so wird ein Strukturwandel, der sich auf die Normen auswirkt, möglich, wenn die sozialen Kontrollmechanismen die Spannungen nicht regulieren können.

Spannungen auf der Wertebene erzeugen Polarisierungen wie Hoffnung und Angst, oder Mischformen wie Wunschdenken. (vergleichbar mit der Polarisierung in Mertons „Sozial¬struktur und Anomie“). Es entstehen utopische symbolhafte Idealismen wie der Kommunismus oder der Konformismus oder extreme Ideologien wie der Nationalsozialismus.

Spannungen wirken sich jedoch nur dann in Strukturwandel aus, wenn die Bilanz zwischen den durch Störungskräfte motivierten Handlungen und den sich durch Sanktionen ergebenden Akzeptierungschancen in der institutionellen Struktur gross genug ist. Die Spannungen müssen sich bis auf die höchste Kontrollebene ausbreiten, wo die Störungen stärker als die Kontrollmechanismen sein müssen, um Wandel zu erzeugen.

Andere Faktoren, die einen Strukturwandel begünstigen, sind

- positive Mechanismen, die die Widerstände von Institutionen überwinden, indem sie institutionalisierte Interessengruppen zur Aufgabe dieser Widerstände veranlassen,

- dass die positiven Reaktionen auf Spannungen ausreichende konstruktive Fähigkeiten enthalten, um zur Aufgabe der alten Verhaltensmuster zu motivieren,

- dass es ein Vorbildmodell der neuen zu institutionalisierenden Form gibt (exogen oder selbst entwickelt), dass die Werte und Normen verkörpert, die internalisiert werden sollen,

- dass es in der Übergangsphase Sanktionen geben muss, die die Handlungen im Sinne des neuen Modells selektiv bedienen.

5.8 Die Differenzierung der Verwandtschafts- und Berufsrollen

Einer der fundamentalen Typen des sozialen Wandels ist die funktionale Differenzierung, die Aufgliederung eines Systems in verschiedenartige Elemente, um die einzelnen Funktionen des Systems durch Aufgabenspezialisierung besser bewältigen zu können.

Die vermehrten arbeitsteilig organisierten Positionen ergänzen sich gegenseitig und sind wechselseitig aufeinander angewiesen. Dadurch werden Ressourcen flexibler verfügbar, aber auch das Konfliktpotential steigt. Es bedarf also der Ausbildung neuer Kontroll- und Integrations¬mechanismen höherer Ordnung, die alte Mechanismen ablösen und neuen Problemen begegnen (z. B. Gewerkschaften, Sozialisationsinstanzen, ...)

Als Beispiel führt Parsons die Ausdifferenzierung der Berufsrollen auf. Diese waren ursprünglich zugeschrieben und in Verwandschaftsbeziehungen eingebettet. Es erfolgte während der industriellen Revolution in England ein Wandel in zwei Rollen in zwei verschiedenen Gruppen: In der Familie und im Betrieb.

Voraussetzung war eine Abwertung der alten Verhaltensmuster v. a. durch Verteilungs¬mechanismen finanzieller Art (ständiger Anstieg der Löhne für Fabrikarbeiter, Familienbetriebe konnten der Konkurrenz nicht standhalten). Es gab (nach Smelser) aber auch positive Sanktionen, die den Wandel begünstigten, inform von Kompromissen und Neuerungs¬ermutigungen, um es nicht zu einer depressiven Verfestigung der negativen Aspekte kommen zu lassen. Ausserdem wurde das alte System nicht vollständig und übereilt ersetzt. Legitimiert wurde der Wandel durch die grössere Produktivität und den Aufschwung des schon bestehenden Puritanismus, der den Profit und die effektive Leistung befürwortete. Es musste also kein neues Wertesystem eingeführt werden.

Die Quellen dieses Wandels waren endogener Natur (technischer Fortschritt), die meisten Unternehmer waren Erfinder. Die weitreichenden Folgen der industriellen Revolution waren z. B. die erheblich Erweiterung der Absatzmärkte, aber auch neue Probleme, die zur Gründung neuer Institutionen (wie Sozialversicherungen, Gewerkschaften) führten.

In komplexen Gesellschaften erfolgt ständig strukturelle Differenzierung und damit ständige Spezifizierung des Wertesystems. (Beispielsweise werden Berufe immer fachbezogener und spezieller, etc.)

5.9 Strukturwandel auf der Werteebene

Auf der Wertebene einer Gesellschaft können zwei Haupttypen des Strukturwandels unterschieden werden:

- das neue Modell wird in seinen wesentlichen Komponenten von ausserhalb der Gesellschaft bezogen. (Alle Industrialisierungsprozesse bauten auf der industriellen Revolution in England auf, in Amerika und Europa entwickelte sich in Ländern, in denen der asketische Protestantismus / Calvinismus verbreitet was, die Industrialisierung schneller als in überwiegend katholischen Ländern)

- das neue Modell wird innerhalb der betreffenden Gesellschaft entwickelt. Wertewandel erfolgt aus eigener Kraft. (vgl. charismatische Innovation, Hitler). Ausgangspunkt des Wandels ist eine veränderte Definition des individuellen Lebenssinns und des Gesellschafts¬charakters. Entsprechende Werte müssen auf die Handlungsebene des sozialen Systems gebracht werden und die Meinungsführer einer Gesellschaft müssen diese Werte übernehmen, damit diese institutionalisiert und durch Sozialisation weitergegeben werden können. Hier ist die Trennung von Staat und Kirche eine wichtige Voraussetzung, die Kirche muss autonom in ihrer Wertfindung und -weitergabe handeln können, muss aber andererseits gute Beziehungen zu einflussreichen politischen Kräften besitzen.

6. Beispiel für eine „gesellschaftliche Alarmsituation“

Als am elften September 2001 der Anschlag auf das World Trade Center und das Pentagon durch die Medien ging und die einzelnen Menschen individuell damit konfrontiert wurden, gab es sofort Reaktionen höherer Ebenen.

Die Wirtschaft setzte den Handel aus, der Flugbetrieb wurde eingestellt. Die Politik setzte Feuerwehrkräfte, militärische und polizeiliche Ressourcen frei und der Präsident der USA berief in Ansprachen das Volk zu Besonnenheit auf. Die Politiker anderer Länder schlossen sich kurz. Die Kirchen boten Gottesdienste an, es gab Schweigeminuten und sogar einen eigens eingerichteten GOD-Channel im Fernsehen, wo Leute anrufen konnten, um nur einige Mechanismen zu nennen, die sofort in Gang gesetzt wurden.

Damit wurden die verschiedenen Subsysteme aktiv, um mit der öffentlichen Empörung und den Konsequenzen fertig zu werden und sozialem Wandel entgegenzuwirken, der durch die entstandene Unsicherheit und die Infragestellung der amerikanischen innenpolitischen Sicherheit durchaus möglich gewesen wäre, wenn man die Menschen nicht dazu aufgefordert hätte, an ihren Werten festzuhalten.

Die strukturfunktionalistische Theorie erklärt also auch, wie die gegenwärtige Gesellschaft auf endogene Gruppen reagiert, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, diese zu schädigen oder zu zerstören. Dabei spielt allerdings die Solidarität zwischen den einzelnen Gesellschaften eine wichtige Rolle, also eine übergesellschaftliche strukturelle Werte-Instanz.

7. Allgemeine Anmerkungen zu Parsons Theorie:

Die meisten theoretischen Kontroversen zum sozialen Wandel beziehen sich auf Parsons Theorie des Strukturfunktionalismus, die in dessen Werk die wohl umfassendste Syste¬matisierung sozialwissenschaftlicher Probleme erbracht hat.

7.1 Zum Autor: Talcott Parsons

- Unterschied zwischen System und Struktur, und somit zwischen Statik und Dynamik der empirischen Tatsachen,

- sah seine Theorie als unvollständig an, da Theoriebildung in der Soziologie immer ein unvollständiger Prozess sei,

- bezeichnete seine Theorie als Skizze, die von anderen Wissenschaftlern aufgegriffen und weiterentwickelt werden sollte,

- bezeichnete seine Theorie als strukturell-funktional. Luhmann, der sie zu einem hochabstrakten Konzept weiterentwickelte, schlug als Bezeichnung den Begriff funktional-strukturell vor, da bei Parsons das Hauptaugenmerk auf dem System läge und nicht auf der Struktur.

7.2 Form:

- gesamtgesellschaftlich: Strukturen ändern sich erst, wenn die Kontrollprozesse des obersten Wertsystem den Störungen nicht widerstehen können. Der Wandel kann jedoch von Gesellschaftsteilen ausgehen,
- eher evolutionär als revolutionär, da es dauernde Sozialisation gibt und der Wandel sich langsam durch die Ebenen der Sozialstruktur fortpflanzt, aber auch revolutionär (Industrielle Revolution),
- die Makroebene dominiert die Mikroebene,
- Strukturwandel,
- einmalig, individuell, jedoch auch repetiv durch dauernde Sozialisation.

7.3 Richtung:

- im Idealfall unilinear, in der Realität meist multilinear, da Wandlungstendenzen auf verschiedene Ebenen gleichzeitig einwirken und ihre Auswirkungen kaum berechenbar sind,
- ungeplant und geplant (technischer Fortschritt vs. Nationalsozialismus),
- ungerichtet.

7.4 Tempo:

- langfristig, erfolgt in Stufen von der Rolle bis zum Wertsystem,
- Gesetzmässigkeiten: Auf alle Gesellschaften anwendbar,
- beschleunigt in Richtung von den Werten aus, retardierend aus Richtung der Rollen.

7.5 Träger:

- Rollen, Gruppen, Normen, Werte; Gruppen haben jedoch je nach Stellung im Sozialgefüge unterschiedlichen Einfluss auf die Werte,
- Legitimation durch Subsysteme des sozialen Systems,
- betrifft das gesamte soziale System.

7.6 Ursachen:

- exogen: geographische Umwelt, biologische Vererbung, „grosse Männer“, überragende charismatische Persönlichkeiten, kulturelle Erklärungen, z. B. religiöse Ideen, Bevölkerungsgrösse, Erfindungen,
- endogen: Input-Outputbilanzen im Ungleichgewicht,
- verschiedene Ursachen, auch gleichzeitig, multikausal, keine Hierarchie,
- strukturell bis institutionell.

7.7 Art der Theorie:

- Strukturtheorie
- auch Utopie: Spannungen und Ungleichgewicht führen zu Polarisierung

8. Quellen

Parsons, Talcott, Das Problem des Strukturwandels, eine theoretische Skizze, in Zapf, Wolfgang (Hrsg.), Theorien des sozialen Wandels, S. 35-54, Kiepenheuer und Witsch, Köln, Berlin, 1970
Parsons, Talcott, Gesellschaften, Suhrkamp Verlag
Parsons, Talcott, The social system
Parsons, Talcott, Social Structure and the development of Personality
Eßbach, Wolfgang, Studium Soziologie, UTB für Wissenschaft, Wilhelm Fink Verlag, München, 1996, S. 141-155 Diese Hausarbeit entstand unter Einbeziehung des schriftlich vorliegenden Tutoriums von Iris Eisenbürger zur Vorlesung „Grundzüge und Theoretische Ansätze der Soziologie“ von Prof. Alois Hahn, Universität Trier (2000/2001)

:::back:::